Heimat- und Geschichtsverein Neu-Anspach e.V.
Heimat- und Geschichtsverein Neu-Anspach e.V.

„Hurdy Gurdy Bewegung“ im 19. Jahrhundert hier bei uns 

v.l.n.r. Die Drehleierspielerin Frau Claudia Gottschalk aus Lißberg,

Stephan Velte v. GHV Wehrheim, Heinz Henrici und Prof. Eugen Ernst vom HGV Neu-Anspach.


 

 

Der Saal des Gasthauses „Zur Linde“ in Neu-Anspach war voll besetzt, als Heinz Henrici die gemeinsame Veranstaltung der Geschichtsvereine von Neu-Anspach und Wehrheim eröffnete. Passend zum Vortrag von Prof. Eugen Ernst hatten sich die Veranstalter etwas Besonderes einfallen lassen. Frau Claudia Gottschalk aus Lißberg  versetzte die Gäste mit ihrer Drehleier, wie sie von den Landgängern im 19. Jahrhundert zum Broterwerb gespielt wurde, auch musikalisch in diese für viele Familien unseres Raumes unsägliche Zeit. Die Drehleier selbst nannte man im amerikanischen Raum  „Hurdy Gurdy“ und die Tänzerinnen waren die „Hurdy Gurdy Girls“. Mehrere Stücke, die meisten waren Kompositionen aus Großbritannien und der Bretagne, gab Frau Gottschalk als Einrahmung zu den Erläuterungen von Prof. Ernst zum Besten. Sie entlockte diesem Instrument Melodien, die die Zuhörer nur zum Staunen brachten.
Professor Ernst, der anfangs auf die soziale und politische Situation der Zeit von ca. 1800 bis 1870 einging, erläuterte insbesondere das wirtschaftliche Ungleichgewicht in den Gemeinden Wehrheim und Anspach. Wehrheim war, im Vergleich zu Anspach weniger arm, es gab mehr Landwirtschaft und man war dort fortschrittlicher in der Bewirtschaftung von Feld und Wald. In Anspach war die Not in der Bevölkerung deutlich größer, was auch der Grund dafür war, dass von dort mehr Mädchen und Jungs  als in Wehrheim in den Sommermonaten den Landgängern (Hausierern) folgten und somit für ein paar Monate ihren Familien nicht auf der Tasche lagen, mit der Hoffnung, die Heimat vorübergehend zu verlassen, um noch vor dem Wintereinbruch mit ein paar finanziellen Ersparnissen zurück zu kommen. Ausgeprägter als in Wehrheim und Anspach war die Landgängerei in den Orten Espa, Münster und Maibach. Aus dieser Gegend kamen auch die Werber oder „Seelenverkäufer“ die diese armen verzweifelten Leute akquirierten und auch die Fahrten ins europäische Ausland, ja sogar bis nach Amerika und Australien, organisierten.

Die jungen Männer und Mädchen wurden von ihren Eltern oft aus der Not heraus regelrecht für eine Saison auf Zeit verkauft. Sie tanzten, spielten verschiedene Musikinstrumente, sangen und verdienten sich u.a. auch durch den Verkauf von Fliegenwedel ein zusätzliches Zubrot.  
Doch es kam immer mehr dazu, dass die Jungs und vor allem die Mädchen selbst zur Ware wurden. Die Seelenverkäufer nutzten sie erbarmungslos aus. Oft mussten die Spielleute unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten. Der Zwang zur Prostitution war nichts Außergewöhnliches. Viele dieser Spielleute kamen nicht selten krank und ärmer als zuvor wieder heim oder starben in der Ferne. Wenige  hatten mehr Glück und kamen zu Reichtum, der sich jedoch bei näheren Hinsehen  als  Fassade entpuppte. Es gab auch welche, die  einen Partner fanden und für immer in ihrer "Neuen Heimat" blieben und den Wohlstand fanden, nach dem sie sich schon immer gesehnt hatten. Aber das waren nur Ausnahmen.
Einen tiefen und nachhaltigen Eindruck hinterließ gegen Ende des sehr informativen Abends Prof. Ernst, als er einen Brief vorlas, den eine junge Frau aus der Gegend von Lißberg an ihre Eltern geschrieben hatte. Sie berichtete von ihrem Schicksal, der Überfahrt nach Amerika und dem Tod einer Freundin. Der Inhalt dieses Briefes ging unter die Haut. Es waren keine weiteren Worte mehr nötig, um die bitteren und dramatischen  Lebensumstände der Armen dieser Zeit weiter zu vertiefen. Mit einer Komposition eines Liedes, in dem ein Pfarrer aus unserer Gegend den Verlust zweier Kinder beklagte, die bei der Kollision ihres Schiffes bei der Überfahrt nach Amerika, zusammen mit 400 Personen an Bord, in den Fluten der Nordsee ihr Leben verloren, wurde das Thema „Landgängerei Hurdy Gurdy Bewegung“ noch einmal authentisch beschrieben und musikalisch mit Texten eingerahmt. Es war ein Abend mit bleibenden Eindrücken, der uns zeigte, wie die Menschen im Kampf ums tägliche Brot genötigt wurden. Heinz Henrici versprach bei seinen Dankesworten an die ausgezeichnete Drehleiherspielerin Frau Gottschalk und dem hervorragenden und mitreißenden Referenten Prof. Ernst, dass beide Geschichtsvereine ihre nun seit einigen Jahren bestehende Kooperation weiter pflegen und auch darauf  achten werden, die geschichtlichen Prozesse in unserer Heimat, die in einigen Gemeinde als „unsäglich“ behandelt und teilweise verschwiegen werden, hier bei uns auch in Zukunft so zu transportieren, wie sie wirklich waren.  

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© Heinz Henrici HGV-Neu-Anspach e.V.